Der Perfektionismus-Pakt: Warum wir uns selbst sabotieren, um dazuzugehören.
- Sabrina Szutowski
- 26. Sept.
- 3 Min. Lesezeit

Du sitzt abends um 23 Uhr noch an einer E-Mail, die du schon vor Stunden hättest abschicken können. Du feilst an jedem Wort, jeder Formulierung, aus Angst, irgendetwas könnte falsch verstanden werden, du könntest inkompetent wirken.
Oder du bereitest dich auf eine Präsentation vor, kennst jede Folie auswendig, aber die innere Stimme flüstert dir zu, dass es immer noch nicht gut genug ist. Dass die anderen die eine Schwachstelle finden werden.
Vielleicht sagst du sogar die Einladung zum Abendessen bei Freunden ab, weil du dich an diesem Tag nicht energiegeladen und schlagfertig genug fühlst, um die „perfekte“ Version deiner selbst zu sein.
Dieser zermürbende, innere Druck.
Dieses Gefühl, ständig auf einem Hochseil zu balancieren, während alle anderen mit festem Boden unter den Füßen zu laufen scheinen.
Wenn dir das bekannt vorkommt, bist du nicht allein. Und du bist auch nicht einfach nur „zu ehrgeizig“ oder ein „Kontrollfreak“.
Was du erlebst, ist viel tiefer und menschlicher.
Es ist der stille, unbewusste Pakt, den viele von uns mit dem Perfektionismus geschlossen haben – in der Hoffnung, uns damit einen Platz in der Welt zu sichern.
Die psychologischen Wurzeln: Die Urangst vor dem Alleinsein
Stell dir für einen Moment unsere Vorfahren vor. Für sie bedeutete die Zugehörigkeit zur Gruppe pures Überleben. Ausgestoßen zu werden, war gleichbedeutend mit dem Tod. Diese tiefsitzende, evolutionäre Angst vor Ablehnung ist auch heute noch in unserem Nervensystem verankert.
Sie ist der unsichtbare Motor hinter vielen unserer Handlungen.
Dein Perfektionismus ist im Grunde eine ausgeklügelte, aber leider veraltete Überlebensstrategie. Dein Unterbewusstsein hat eine einfache, wenn auch fehlerhafte Gleichung aufgestellt:
Wenn ich perfekt bin → mache ich keine Fehler → kann niemand mich kritisieren → werde ich nicht abgelehnt → bin ich sicher.
Perfektionismus ist die Rüstung, die wir tragen, weil wir im Innersten Angst haben, dass unser ungeschütztes, „unperfektes“ Selbst nicht liebenswert oder gut genug ist.
Der Wunsch nach Kontrolle über jedes Detail – sei es bei der Arbeit, im Haushalt oder in sozialen Interaktionen – ist der verzweifelte Versuch, alle Variablen auszuschalten, die zu einem möglichen Scheitern und damit zur befürchteten Ablehnung führen könnten.
Was dabei in deinem Gehirn passiert:
Diese Angst ist nicht nur ein Gefühl, sie ist handfeste Neurobiologie.
Wenn du befürchtest, einen Fehler zu machen oder kritisiert zu werden, springt deine Amygdala an – das Angstzentrum deines Gehirns.
Sie kann nicht zwischen der realen Bedrohung durch einen Säbelzahntiger und der gefühlten Bedrohung durch den kritischen Blick eines Kollegen unterscheiden.
Für sie ist beides „Gefahr“.
Daraufhin wird das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet.
Du gerätst in einen chronischen „Kampf-oder-Flucht“-Modus. Das erklärt, warum du dich so oft erschöpft, ausgelaugt und angespannt fühlst. Dein Körper läuft ständig auf Hochtouren, um eine Bedrohung abzuwehren, die nur in deinem Kopf existiert.
Gleichzeitig wird dein präfrontaler Kortex, der für rationales Denken, Kreativität und Problemlösung zuständig ist, quasi in den Standby-Modus versetzt.
Deshalb fühlst du dich in Momenten perfektionistischen Stresses oft wie gelähmt, unfähig, eine einfache Entscheidung zu treffen, und verlierst dich in Detailschleifen.
Dein Gehirn versucht dich zu beschützen, sabotiert dich dabei aber paradoxerweise selbst.
Der Pakt wird zur Sabotage.
Und hier liegt die schmerzhafte Ironie: Der Pakt, der dich eigentlich schützen soll, wird zu deinem größten Saboteur.
• Du prokrastinierst wichtige Projekte, weil die Angst vor dem nicht-perfekten Ergebnis dich lähmt.
• Du ergreifst großartige Chancen nicht – die Beförderung, das eigene Business, die neue Beziehung – weil du dich noch nicht „bereit“ oder „gut genug“ fühlst.
• Du brennst aus, weil die aufgewendete Energie, um diesen makellosen Standard zu halten, einfach unmenschlich ist.
• Du schadest sogar deinen Beziehungen, weil deine Angst vor Fehlern dich kontrollierend oder überkritisch gegenüber dir und anderen werden lässt.
Du wolltest dazugehören, aber durch deinen Perfektionismus isolierst du dich.
Du wolltest erfolgreich sein, aber du stehst dir selbst im Weg.
Es ist ein Teufelskreis, der unglaublich viel Kraft kostet.
Du musst diesen Pakt nicht für immer einhalten.
Allein das Bewusstsein für dieses Muster ist der erste, gewaltige Schritt zur Befreiung.
Zu verstehen, dass es nicht dein Versagen ist, sondern ein zutiefst menschlicher Mechanismus, nimmt so viel Last von den Schultern.
Du bist nicht falsch.
Dein Gehirn versucht nur, auf eine sehr umständliche Art, auf dich aufzupassen.
Vielleicht ist es an der Zeit, ihm sanft zu erklären, dass du heute sicher bist.
Dass du dazugehörst – nicht weil du perfekt bist, sondern weil du menschlich bist.
Mit all deinen wunderbaren Ecken, Kanten und „unfertigen“ Entwürfen.
Eine Frage für dich:
Nimm dir einen kurzen, ehrlichen Moment Zeit und frage dich:
Was wäre die eine Sache, die du heute tun, beginnen oder loslassen könntest, wenn du dir erlauben würdest, nicht perfekt, sondern einfach nur „gut genug“ zu sein?


